Codex Manesse - der Beginn der deutschen Nationalliteratur.


Deutschland besitzt neben der bekannten Liederhandschrift aus Benediktbeuern ("Carmina Burana") eine noch berühmtere Liederhandschrift, die unter dem Namen „Codex Manesse“ bekannt und im Original nur selten einmal (wie die Turiner Sindone) zu sehen ist. Ihr Versicherungswert beträgt 50 Millionen Euro. Sie wird in der Universitätsbibliothek Heidelberg aufbewahrt, kann aber jederzeit als Faksimile im Internet eingesehen werden und führt uns in die Zeit der Minnesänger zurück. 

Ihre herausragende Bedeutung liegt in ihrem Umfang, der großen Zahl der vorgestellten „Sänger“ (beginnend mit Kaiser Heinrich VI.), den wunderbaren, den einzelnen „Sängern“ jeweils vorangestellten Miniaturen und ihrem hervorragenden Erhaltungszustand, denn immerhin ist die Handschrift, die in Mittelhochdeutsch verfasst ist, mittlerweile fast schon 700 Jahre alt. Ihr wahrscheinlichster Entstehungszeitraum liegt zwischen 1300 und 1340, also in einer Zeit, wo sich die Hohezeit des Minnesangs bereits ihrem Ende zuneigte. Die Schrift ist streng nach der gesellschaftlichen Stellung der Personen, deren Texte die Liederhandschrift bilden, geordnet. Sie beginnt mit dem Staufer-Kaiser Heinrich VI. (1165-1197), gefolgt von Königen (beginnend mit dem „letzten“ Staufer Konradin (1252-1268)), Herzogen, Markgrafen, Grafen, Freiherrn, Vertretern des Dienstadels bis zu den „Meistern“ – für den Kenner quasi ein "Who is Who" des 13. Jahrhunderts der deutschen Lande. Darunter auch durchaus bekannte Namen wie König Wenzel von Böhmen (1271-1305), Heinrich von Mohrungen (gestorben um 1220), Walther von der Vogelweide (1170-1230), Wolfram von Eschenbach („Parzival“, um 1160-1220), Hartmann von der Aue („Der arme Heinrich“, gestorben um 1220), Gottfried von Straßburg (gestorben1250) und natürlich der „Tannhäuser“ (gestorben um 1265), um nur ein paar wenige zu nennen. Ihre Dichtungen bilden die literarische Basis, die sich einmal zur deutschen Nationalliteratur entwickeln sollte. 

Was den Inbegriff des Minnesangs betrifft (Liebeslyrik zwischen Ritter und einer hochgestellten und oftmals auch verheirateten Dame), so ist Walther von der Vogelweide deren Inbegriff geworden. Obwohl wir über ihn selbst kaum etwas wissen, haben doch seine lyrischen Liebeslieder und Sangsprüche (darunter durchaus politische) auch Dank des „Codex Manesse“ die Zeiten überdauert. Zwei von ihnen haben einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht und werden auch heute oft auf Mittelaltermärkten dargeboten. Ich meine „Unter der Linde“ und das „Palästinalied“, welches die Rezeption eines Kreuzzugs zum Inhalt hat und besonders durch die deutsche Band „In Extremo“ (die sich dem „Mittelalter-Rock“ verschrieben hat) bekanntgeworden ist. 


Walther schrieb seine Lyrik der Zeit gemäß in Mittelhochdeutsch, der Sprache der Menschen (genauer die Literatursprache) in Deutschland zur Zeit der Staufer-Kaiser. Aus ihr hat sich über das Frühneuhochdeutsche und Neuhochdeutsche schließlich nach der Zusammenführung der Nord- und Süddeutschen Dialekte durch Martin Luther unser heutiges modernes Hochdeutsch entwickelt. Trotz eines Zeitunterschieds von rund 700 Jahren sind die Verse immer noch gut verständlich, was zeigt, dass Sprachen und Dialekte doch recht konservative Systeme sind. Also lassen Sie den Originaltext von „Under der linden“ einfach auf sich wirken, wenn auch manche Worte nicht gleich ihren Sinn preisgeben:


Under der linden an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ mugt ir vinden
schône beide gebrochen bluomen unde gras.
vor dem walde in einem tal -
tandaradei!
schöne sanc die nachtigal.

Ich kam gegangen zuo der ouwe,
dô was mîn friedel komen ê.
da wart ich enpfangen hêre frouwe,
daz ich bin sælic iemer mê.
kuster mich? wol tûsenstunt!
tandaradei!
seht, wie rôt mir ist der munt.

Dô het er gemachet also riche
von bluomen eine bettestat.
des wird noch gelachet innecliche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
bî den rôsen er wol mac -
tandaradei!
merken, wâ mirz houbet lac.

Daz er bî mir læge, wessez iemen,
- nu enwelle got - sô schamt ich mich.
wes er mit mir pflæge, niemer niemen
bevinde daz wan er unt ich
und ein kleinez vogellîn!
tandaradei!
daz mag wol getriuwe sîn.


Das Original findet man in der digitalisierten Ausgabe des „Codex Manesse“ (Internet) auf Blatt 130 in der zweiten Spalte und eine Vielzahl gesungener Fassungen (auch in Hochdeutsch) auf Youtube. 

Was den eigentlichen Minnedienst betraf, gibt es eine bessere Quelle als Walther, und zwar das fast vollständig erhaltene Werk „Vrowen dienst“ des Herrn Ulrich von Lichtenstein (um 1200 bis 1275), welches starke autobiografische Züge aufweist und uns einen Ritter nahebringt, der in nichts dem bekannten Helden der Mancha in der Sierra Morena, den Miguel de Cervantes Saavedra so trefflich beschrieben hat, nachsteht. Auch von ihm Erdichtetes kann man im „Codex Manesse“ nachlesen. 

Die Rezeption der dichterischen Werke des deutschen Hochmittelalters erfolgte im Detail erst im Zeitalter der Romantik. Es wurde nach Quellen gesucht (wie es z. B. die Brüder Grimm taten, die Entdecker des „Codex Manesse“ 1815 in der Königlichen Bibliothek zu Paris), Übersetzungen und Nacherzählungen angefertigt und veröffentlicht (z. B. Ludwig Tieck(1773-1853)) sowie die Zeit ihrer Entstehung und die Personen beleuchtet (z. B. Ludwig Uhland (1787-1862)). 


Diu welt was gelf, rôt unde blâ,
Grüen in dem walde und anderswâ,
Die kleinen vogel sungen dâ,
Nû schrîet aber diu nebelkrâ.
Hat si iht ander varwe? Jâ,
Sist worden bleich und übergrâ.
Des rimpfet sich vil manic brâ.

Ich saz ûf einem grüenen lê,
Da entsprungen bluomen unde klê,
Zwischen mir und jenem sê.
Der ougenweide was dâ mê.
Dâ wir schapel brâchen ê,
Dâ lît nû rîfe und ouch der snê.
Daz tuot den vogellînen wê.

Die tôren sprechent, snîâ, snî!
Und arme liute, owî, owî!
Des bin ich swaere alsam ein blî.
Des winters sorge hân ich drî:
Swaz der und ouch der ander sî,
Der wurde ich aller schiere frî,
Waer uns der sumer nâhe bî.
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Heinrich von Morungen:  Von den Elben


Im Codex Manesse... (Universitätsbibliothek Heidelberg)


Vón den elben wirt entsén vil manic man.
Só bin ich von grózer liebe entsén
Von der besten die ie man ze friunt gewan.
Wil si aber mich darumbe vên,
Mir zunstaten stên, mac sied an rechen sich,
Tuo des ich si bite: si fröut sô sêre mich,
Daz min lip vor wunne muoz zergên.

Mich enzündet ir vil liehter ougen schin
Same daz fiur den dürren zunder tuot,
Und ir fremden krenket mir daz herze min
Same daz wazzer die vil heize gluot:
Unde ir hôher muot, ir schône, ir werdecheit,
Und daz wunder daz man von ir tugenden seit,
Deist mir übel und ouch lîhte guot.

Swenne ir liehten ougen sô verkêren sich
Daz si mir aldurch mîn herze sên,
swêr da enzwischen danne stêt und irret mich,
dém müeze al sîn wunne gar zergên!
Wenne sol mir iemer liep geschên?


Literatur:

Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter: neu bearbeitet und hrsg. von Ludwig Tieck und Phillip Otto Runge



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